Horizonte-Gottesdienst am 15. September 2012 in Theißen
Lesung: Psalm 42
1 Eine Unterweisung der Söhne Korach, vorzusingen.
„Wo ist denn nun dein Gott?“
„Du bist bei mir, auch wenn ich dich heute nicht spüre.“ Das mag ja gehen, wenn das nur heute so ist. Aber was, wenn das viele Tage so geht und gar nicht aufhören will? Wo ist Gott, wenn er nicht zu spüren ist?
Denn das ist ja wohl wahr: Gott ist weiter weg, als manche das vollmundig und immer fromm-fröhlich behaupten. „So viel der Himmel höher ist als die Erde“, sind Gottes Wege und Gedanken höher als menschliche Wege und Gedanken, schreibt der Prophet Jesaja einmal (Jesaja 55,8.9)
Ein Beispiel dafür bietet die uralte Erzählung vom Turmbau zu Babel. Die Menschheit hatte sich gerade soweit entwickelt, dass sie ihre erste Hochkultur zustande brachte. Aus Jägern und Sammlern waren sesshafte Völker geworden, die Städte bauten, Verwaltungen ersannen, Paläste und Tempel errichteten. Und sie strebten nach immer mehr Fortschritt und Ansehen. „Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen.“ (1. Mose 11,4). Gott nahm’s bis dahin recht gelassen, so entsteht der Eindruck.
Und das ist auch irgendwie klar. Denn er hatte doch den Menschen mit dem Auftrag in die Welt geschickt, sich die Erde Untertan zu machen und über sie zu herrschen (1. Mose 1,26–28). Dann muss er den Menschen ja auch machen lassen. Dann muss er ihnen doch die Freiheit zum Gestalten geben. Gott hält sich raus – zumindest eine ganze Weile. Denn er hat uns Menschen die Verantwortung für unsere Welt und unser Leben übertragen.
In der Theologie gibt es dafür einen Fachbegriff und ein Bild, dass Gottfried Wilhelm Leibniz (+ 1716) prägte. Der Fachbegriff ist der Deismus. Gott hat die Welt geschaffen, aber er hält sich nach Vollendung der Schöpfung raus aus allen Angelegenheiten von Mensch und Natur. Der Philosoph Leibniz begründet das so: Die Welt ist wie ein perfektes Uhrwerk von dem Uhrmacher Gott gemacht. Sie ist perfekt, und so läuft alles nun nach dem inneren Plan der Welt ab. Gott muss nicht mehr eingreifen, sonst wäre sein Werk ja nicht perfekt.
Also: Gott hält sich raus. So wie bei dem Plan und Vorhaben der Turmbauer.
Gott hält sich raus, eine ganze Weile. Zum Beispiel als sein Volk Israel in Ägypten immer mehr von geduldeten Gästen zu Sklaven wird.
Das verheißene Land hatten die Urahnen 400 Jahre zuvor verlassen, und an Rückkehr war gerade nicht zu denken, denn die Ägypter brauchten billige Arbeitskräfte. 400 Jahre lässt sich Gott nicht blicken. Zumindest nicht so, dass einer der biblischen Autoren dazu auch eine Notiz machen würde.
Gott hält sich auch raus, als die Könige in Israel großen Mist bauen und von Gott nicht mehr viel wissen wollen. Die Propheten mahnen zwar immer wieder und warnen davor, dass es irgendwann einen gewaltigen Schlag geben könnte, aber es passiert ja nichts. Bis dann doch über 200 Jahre (722 v.Chr.) nach dem ersten kritischen Urteil Gottes über das Volk Nord-Israel von den Assyrern überrannt wird. Der Süden, das Reich Juda, hat nichts daraus gelernt. So dauert es noch einmal 150 Jahre (587 v.Chr.), bis die Katastrophe auch über den Süden hereinbricht. Die Babylonier sind es dieses Mal.
Gott hält sich raus, das schreit sogar ein Jesus Christus am Kreuz: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“
Haben die Deisten recht? So, wie manche Teile der Geschichte Israels und die Geschichte einzelner Menschen es beschreiben, hält sich Gott raus. Und so erleben es viele auch heute. Kriege und Katastrophen nehmen ihren Lauf, ohne dass auf göttliches Eingreifen hin etwas anders würde. Die Schreckensherrschaft des Dritten Reiches ging durch den Sieg übermächtiger Verbündeter zu Ende, mit viel Zerstörung, und viel zu spät. Viel zu viele Menschen mussten leiden und fanden den Tod. Und seitdem hat der Mensch ja kaum etwas daraus gelernt. Hier ist Frieden, aber im Vorderen Orient kracht es, in Afrika toben Bürgerkriege, in Südamerika Drogenkriege, in Asien knechten Kommunisten ein großes Volk.
Gott? Hält sich raus. So erleben es Menschen auch ganz persönlich. Gott schweigt auf ihre Gebete. Es gibt Tage, da ist er wohl sehr, sehr fern.
„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ Mit dieser Frage kommt Gott den falschen Propheten in Israel, die das Volk einlullen mit falschen, beruhigenden Worten (Jeremia 23,23).
Andererseits – direkt nach dieser Frage eine ganz andere Aussage aus Gottes Mund: „Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?“ Wie könnte Gott sich da raushalten, wenn er doch immer mittendrin ist?
Also: Gott hält sich nicht raus.
Die Sache mit dem Turmbau geht nämlich weiter und ist dabei mit einer Prise Humor gewürzt. Die Menschen wollen einen Turm bauen, der bis zum Himmel reicht. Und dann heißt es wörtlich: „Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, den die Menschenkinder bauten.“ Er muss näherkommen, damit er das riesige Bauwerk überhaupt sehen kann. War wohl noch nicht so groß und berühmt, zumindest nicht aus erhöhter Warte. Den Turmbauern von Babel wirft er Steine in den Weg – sie können nicht mehr miteinander reden, sind verwirrt, Missverständnisse und böse Worte greifen um sich, die sprichwörtliche babylonische Sprachverwirrung beendet das Projekt, mit dem sich Menschen neben Gott setzen wollten.
Gott hält sich nicht raus. Nach 400 Jahren packen die Israeliten die Koffer – und ein Pharao, der sie noch im Weggehen schon wieder verfolgt, geht mit Ross und Wagen und Armee unter.
Die falschen Könige und Propheten in Israel finden ihr Ende.
Und: Jesus wird an Ostern von den Toten auferweckt.
Gott erfüllt Himmel und Erde und handelt. Nicht nur in der großen Politik, nicht nur an dem einen bedeutenden Menschen Jesus Christus. Er handelt an und mit einzelnen. Das sagen die Wundergeschichten im alten und neuen Testament. Ganz normale, gesellschaftlich nicht besonders bekannte Menschen erleben Wunder an Leib und Seele, Menschen, deren Namen nicht einmal in den Wundergeschichten genannt werden.
Und auch das wird bis heute erzählt, erleben Menschen heute – wie Gott in ihr Leben eingreift; oder, mal ganz vorsichtig ausgedrückt: wie sie ein Ereignis in ihrem Leben nur als das Eingreifen und Handeln Gottes verstehen können, weil es sich anders nicht erklären lässt. Das mag eine Heilung sein, das mag neuer Lebensmut angesichts völlig widriger Umstände sein, das mag die Wende in der deutschen Geschichte sein.
Gott hält sich nicht raus.
Was ist denn nun richtig? Oder ist die Frage vielleicht schon falsch formuliert?
Ich denke, ein wichtiger Punkt, an dem wir uns den Zugang zu Gottes Handeln erschweren, ist unsere eigene Vorstellung davon, wann und wie Gott handeln und eingreifen soll. Die wenigen biblischen Beispiele haben es ja gezeigt: Wer mit menschlicher Logik darauf schaut, kommt zuerst zu dem Urteil, dass Gott weit weg ist vom Geschehen in der Welt. Er lässt die Menschen machen, sehr lange sogar. Und dabei entsteht oft großes Unglück.
Diejenigen von den Israeliten, die irgendwann in den vierhundert Jahren vor der Befreiung aus Ägypten lebten, musste es doch so vorkommen, als ob es ihren Gott nicht mehr gäbe. 400 Jahre, da sind minimal gerechnet wenigstens fünf Generationen gestorben, denen es immer schlechter ging. Und Gott war nicht da. Erst die Generation, die den Auszug selbst erlebt, gewinnt aus dem persönlichen Leben eine andere Ansicht.
Paulus schreibt einmal in einem fantastisch einfachen Satz in einem seiner Briefe, im Galaterbrief: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn.“ – Als die Zeit erfüllt war! Eher nicht.
Dabei hatten die Juden schon lange auf einen Gott gesandten Retter gewartet. Und man muss ja zugeben: Der Brüller war die Herrschaft raubender Völker wie der Assyrer und Babylonier, der Griechen und Römer nicht. Sie haben wohl viel Gutes und kulturell Bedeutendes hervorgebracht. Aber dabei ist auch viel Blut geflossen und viele sind verachtet und unterdrückt worden.
Die Zeit wäre nach menschlichem Ermessen, vor allem nach der Beurteilung der unterjochten Völker, schon längst reif gewesen für einen Neuanfang, für den Messias.
Als die Zeit erfüllt war, als Kaiser Augustus regierte, als Maria und Josef dazu bereit waren – da sandte Gott seinen Sohn in die Welt, nicht früher und nicht später. Mit menschlichen Augen betrachtet gab es weder zurzeit des Jahres Null – das es ja gar nicht gibt – einen vernünftigen oder besonders herausragenden Grund, dass Gottes Sohn in die Welt kam, noch gab es zu anderen Zeiten Gründe, warum er nicht da hätte kommen sollen.
Wir würden’s immer anders machen – und schließen daraus, dass Gott nicht da ist. Es ist eine der Lieblingsfragen der Kritiker Gottes. „Wo war denn da Gott?“ Wenn er nicht eingreift bei Leid und Krieg und Tod, dann kann er nicht dabei sein.
Ach – wer passiv ist, ist also wohl nicht da?
Ich habe im Deutschunterricht einmal gelernt, dass „Passiv“ die „Leideform“ ist. Ich weiß nicht, ob das aktuell in der Schule noch gebräuchlich ist, aber zumindest in der einen oder anderen Literatur zur Grammatik findet man diesen Versuch, den Begriff mit einem deutschen Wort wiederzugeben.
Manchmal ist Gott wohl passiv, im engsten Sinn des Wortes. Er leidet. In jedem einzelnen Leidenden auf dieser Welt ist Gott gegenwärtig, mittendrin und zutiefst davon betroffen.
Das bedeutet es auch zuerst, dass in Jesus Gott Mensch wurde. Er nimmt unser ganzes Wesen an – und damit auch die Leiden, die dieses Wesen mit sich herumtragen muss.
Der Prophet Jesaja malt einmal das Bild des leidenden Gottesknechtes, das in der christlichen Kirche von Anfang an auf Jesus Christus gedeutet wurde. Ein paar Beschreibungen des Gottesknechtes?
der Allerverachtetste, der Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit; das Angesicht verbirgt man vor ihm; geplagt, gemartert, zerschlagen, am Ende bei den Gottlosen und Übeltätern verscharrt (nach Jesaja 53,3–9)
Gott gibt sich passiv, er leidet an und mit seinen Menschen. Er ändert – für einen Moment oder für 400 Jahre – äußerlich vielleicht nichts, aber er ist mittendrin. Er hält sich auf keinen Fall raus aus seiner Welt und aus unserem Leben. Aber er handelt anders, als wir uns das jemals vorstellen oder gar ihm vorschreiben können.
Wir sind dabei ja längst nicht die ersten, die an dieser passiven Seite Gottes manchmal verzweifeln und das Handtuch werfen.
Einem der Jünger, Judas, geht Jesus dermaßen auf den Zeiger, weil er nicht die Macht ergreift und endlich den Weltfrieden herstellt, die Römer rauswirft und Israel zu einem großen Volk macht, dass er Jesus verrät. Und wer ähnliche Erwartungen wie Judas Ischariot hatte, der steht wohl unterm Kreuz dabei und spottet mit: „Andern hat er geholfen, er steige nun herab vom Kreuz. Lasst uns mal sehen, ob er wirklich diese Macht hat.“
Der Beter von Psalm 42 und 43 – beide Psalmen gehören zusammen – nimmt dreimal Anlauf und klagt Gott sein Leid, schreit sich die Seele aus dem Leib. Dann wird ein Hoffnungsfunke wach, nur damit er im nächsten Moment mit der nächsten Not konfrontiert ist.
Leiden an Gottes Passivität in der Gegenwart, im eigenen Leben. „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir“, heißt es wörtlich am Anfang dieses Gebetes. Gottes Taten kennt er nur aus der Vergangenheit. Er erinnert sich an Jubelfeiern im Tempel. Er erinnert sich an manche gute Gebetszeit im stillen Kämmerlein in der Nacht.
Aber jetzt? Gott schweigt.
Das kennen viele Menschen, auch gerade viele Christen. Gute Zeiten, fröhliche Gottesdienste, eine Gemeinschaft, die einen getragen hat, Gebete, die nur so von den Lippen flossen.
Und nun? Nichts mehr davon.
Hält sich Gott raus? Hat er sich zurückgezogen? Können wir das auf Grund unserer Gefühlslage beurteilen?
Mich beeindruckt, wie der Beter mit dieser Erfahrung umgeht. Seinen dreimaligen Anlauf beendet er – gut Lutherdeutsch formuliert – mit einer Ermutigung und Aufforderung an sich selbst:
„Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“
Sein Gefühl hat sich nicht verändert. Seine Situation hat sich nicht verändert. Seine Ermutigung enthält einzig und allein Zukunftsmusik: „Ich werde Gott noch danken.“ Er hat für sich die Entscheidung getroffen: Ich will von Gott alles erwarten, davon gehe ich nicht ab. Und mit dieser Entscheidung liegt er Gott ständig in den Ohren.
Es gibt ein paar Gebete in der Bibel, in denen Beter dermaßen penetrant vor Gott treten und um ihr Recht, um Beistand und Hilfe beten. Jesus ruft im Garten Gethsemane dreimal nach Gott.
Abraham handelt Gott einmal in fünf Gesprächsgängen runter von 50 auf 5 Gerechte, die vielleicht in dem üblen Sodom zu finden sind. Wenn wenigstens die da sind, dann würde doch Gott die Stadt nicht zerstören. Ein echt orientalischer, penetrant durchgezogener Handel.
Einmal erzählt Jesus selbst ein Gleichnis, um deutlich zu machen, dass wir Gott ständig in den Ohren liegen sollen und dürfen. Eine Witwe suchte bei einem Richter um ihr Recht nach. Immer und immer wieder – aber der hörte wohl nicht richtig, der war sein eigener Herr und scheute sich vor niemandem. Er war wohl auch niemand Rechenschaft schuldig. Immer und immer wieder stand aber die Witwe vor seiner Tür und forderte ihr Recht ein. Und schließlich hört er sie an und spricht sein Urteil. Weil er Angst hat, dass ihm eines Tages vielleicht doch eine runterhauen würde – oder Schlimmeres antun – wenn er nicht reagiert.
Ein ziemlich krasses Beispiel. Aber schon dieser doch selbstgerechte Richter spricht irgendwann Recht. Sollte Gott nicht seinen Auserwählten viel eher zuhören und auf ihre Gebete reagieren? So ist Jesu Schlussfolgerung. (Lukas 18,1–8)
Es ist ein gläubiger Trotz, mit dem sich solche Beter in der Bibel und darüber hinaus an Gott wenden. Weil sie eins ganz fest glauben und das Gott auch ständig vorhalten: „Gott, du bist nicht nur passiv und leidest mit uns. Du hast schon gehandelt. Und nun handle wieder.“
Dabei leben sie, wie jeder Christ, in der Spannung zwischen der vollen Verantwortung, die Gott uns für unser Leben und für diese Welt übertragen hat, und der Gewissheit, dass wir Kinder Gottes sind, denen Gott selbstverständlich beisteht.
Der Schlüssel liegt für mich in dem kleinen Wort „mein“, das der Beter von Psalm 42 spricht.
Ohne das bleibt dieser Gott, der sich scheinbar raushält, ein unpersönlicher Gott. Ja, den kann man links liegen lassen, wenn er nicht so funktioniert, wie wir das wollen.
Aber: „Du bist mein Gott.“ Und deswegen lasse ich dich niemals links liegen, sondern liege dir ständig in den Ohren, weil ich umgekehrt dein Kind bin. Und dann werde ich dir gewiss noch danken, weil du mein Gott bist und mir hilfst.
Amen.